Wie es zu geringer Lesekompetenz kommt

Grundlegende Lese- und Schreibkompetenz braucht Zeit und Wertschätzung, aber die wird nicht allen zuteil. Diskriminierung, häusliche Gewalt, frühe Elternschaft und dauerhaft fehlendes Geld stellen lebenslange Herausforderungen beim Schriftspracherwerb dar.

Ein kleines Wissenschaftsevent am Donnerstag, 5.9.2024 präsentiert neue Forschungsergebnisse zur Alphabetisierung. Hamburger Volkshochschule und Universität Hamburg diskutieren Künstliche Intelligenz in der Grundbildung, finanzielle Bildung, Inklusions- und Biographieforschung.

Senatorin Ksenija Bekeris || Copyright: UHH/Mentz

Senatorin Ksenija Bekeris begrüßt die Initiative: „Es ist unser gemeinsames Ziel, das Thema der Alphabetisierung und Grundbildung nicht nur auf wissenschaftlicher und praktischer Ebene voranzutreiben, sondern es auch im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Denn nur wenn dieses Thema in der breiten Öffentlichkeit präsent bleibt, können wir die notwendige Unterstützung und die erforderlichen Ressourcen mobilisieren, um echte Fortschritte zu erzielen.“

Prof. Dr. Anke Grotlüschen und Uwe Grieger || Copyright: UHH/Mentz

Mitveranstalterin Anke Grotlüschen hält das auch für geboten: „Literalität erwirbt man nicht in drei Monaten und auch nicht zwischen Kleinkindern, Geldsorgen und Diskriminierungen. Bildung braucht Zeit und Wertschätzung“. Die Probleme sind auf der ganzen Welt dieselben, wie eine internationale Biographiestudie zeigt. Geldsorgen, stereotype Geschlechterverhältnisse, ausgrenzende Schulen und unzulängliche Integration behindern den frühen oder nachholenden Schriftspracherwerb.

Es habe niemals irgendwie Geld gegeben, sagt eine Südafrikanerin, die als Vierzigjährige in Kapstadt ihren Schulabschluss nachholt. Aus Chile heißt es: Der Vater habe alles verkauft, um seinen Alkoholismus zu finanzieren. Um die Kinder aus ärmeren Verhältnissen kümmert sich niemand, sagt ein Kanadier, auch er lernt Lesen als Erwachsener.

Eine aus Haiti nach Kanada eingewanderte Sechzigjährige sagt, ihr Mann habe es zwar nicht gewollt, sie sei aber trotzdem zum Integrationskurs gegangen. Ihre Mutter habe sie früher immer zur Arbeit mitgenommen, darum konnte sie kaum zur Schule gehen. Eine Chilenin wurde selbst früh Mutter, darum war die Schule für sie vorbei: Auch sie lernt heute in Alphabetisierungskursen für Erwachsene. Denn die Anforderungen an Mutterschaft sind hoch: Forschungsergebnisse der Universität Kiel weisen darauf hin, wie schwer es ist, bei geringer Lesekompetenz die Anforderungen an Schwangerschaft und Geburt zu bewältigen.

Kristin Skowranek berichtet über den Einsatz von KI in der Grundbildung und Alphabetisierung || Copyright: UHH/Mentz
Senatorin Ksenija Bekeris und Uwe Grieger folgen interessiert den Vorträgen || Copyright: UHH/Mentz
Dekan der Fakultät für Erziehungswissenschaft Prof. Dr. Claus Krieger || Copyright: UHH/Mentz

Das Geldverdienen wird mit geringer Lesekompetenz ebenfalls erschwert. Ein Norddeutscher sagt: Er kam zur Sonderschule und „damit hatte ich gar keinen Abschluss“. Es bleibt erst einmal nur die Fabrik. Aus USA und Kanada wird dasselbe berichtet: Wer nicht lesen kann, so ein Interviewpartner, verliert sogar den Job bei der Fast-Food-Kette.

Die internationale Biographiestudie zeigt: Viele verstehen die Diskriminierung, die zu geringer Lesekompetenz geführt hat, erst heute. Dass sie als Mädchen weniger Schulunterricht bekamen, dass Frauen die Care-Arbeit übernehmen, dass man sie als Migrantinnen oder Schwarze im Bildungs- und Gesundheitssystem rassistisch behandelt hat, dass sie aufgrund von Armut auf Sonderschulen abgeschoben wurden, schien ihnen normal.

Vizepräsidentin der Uni Hamburg Prof. Dr. Natalia Filatkina || Copyright: UHH/Mentz

Die Vizepräsidentin der Universität Hamburg, Professorin Filatkina fordert: „Der Zugang zu Bildung ist ein Menschenrecht! Als Gesellschaft und insbesondere als Bildungsinstitution sind wir gefordert, Diskriminierungen, die den Zugang zu Literalität und damit zu Bildung erschweren, entschieden entgegen zu treten. Der Welt-Alphabetisierungstag erinnert uns an diese Verantwortung.“

Die Chancen dafür stehen gut: Die Hamburger Volkshochschule hat erstmalig eine dauerhafte Koordinierungsstelle für Alphabetisierung eingerichtet. Die Finanzierung erfolgt durch die Bildungsbehörde.